Bocholter Suchttherapeut: Cannabis-Legalisierung ist „überfällig“ – Interview mit Michael Helten

BBV, Barbara-Ellen Jeschke vom 26.08.2023
Wir danken dem BBV und dem Fotografen Sven Betz, dass wir den Bericht und Foto hier übernehmen dürfen.

Bocholt – Das Bundeskabinett hat ein Gesetz zur Legalisierung von Cannabis beschlossen. Damit will die Bundesregierung den verantwortungsvolleren Umgang mit Cannabis erreichen. Das BBV hat mit dem Diplom-Sozialarbeiter und Suchttherapeuten Michael Helten gesprochen.

Michael Helten freut es, dass über die Cannabis-Legalisierung diskutiert wird. Foto Sven Betz

Michael Helten freut es, dass über die Cannabis-Legalisierung diskutiert wird. Foto: Sven Betz

Herr Helten wie beurteilen Sie das Gesetz zur Legalisierung von Cannabis?

Michael Helten Es ist in erster Linie eine Entkriminalisierung. Cannabis wird aus dem Betäubungsmittelgesetz herausgenommen.

Wie ist Ihre Sicht als Therapeut beim Sozialdienst hierauf?

Helten Man muss das sicherlich aus unterschiedlichen Perspektiven bewerten. Wir sind in der Drogenberatung und Drogenhilfe tätig. In unseren Fachbereich gehört die Schadensminimierung durch niedrigschwellige Arbeit, der Drogenkontaktladen und die Suchtbegleitung. Ebenso gehört dazu die Rehabilitation und Hilfe bei Therapie und Therapievermittlung sowie Angehörigenberatung. Aus dieser Perspektive ist es zwingend notwendig und ich würde fast sagen überfällig, dass der Konsum von Cannabis aus dem Bestrafungsbereich der Konsumenten herausgeführt wird.

Warum?

Helten Das Strafrecht regelt Suchtprobleme nicht. Die Legalisierung umgekehrt auch nicht. Das Strafrecht hat an der Stelle eigentlich schon versagt. Es hat nicht funktioniert, mit dem Strafrecht den Schutz der Gesellschaft vor der illegalen Droge Cannabis zu regeln. Cannabis ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wir haben sehr viele Konsumenten. Cannabis wird bei vielen in der Gesellschaft schon akzeptiert. Da muss sich das Strafrecht einfach verändern.

Sie haben vor allem die Konsumenten im Blick.

Helten Die Folgen durch das Strafrecht sind für die Konsumenten erheblich. Jeder, der den Wunsch hat, Cannabis zu konsumieren, auch zu Genusszwecken, muss sich in illegale Handelsketten begeben. Und es ist de facto ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz mit allen Konsequenzen: Geld- und Haftstrafen, Einträge in das Führungszeugnis. Das erschwert Konsumenten eine spätere Rehabilitation.

Wie haben sich der Konsum und die Beratungsgespräche zu Cannabis in den vergangenen Jahren entwickelt?

Helten Auffällig ist schon, dass es viel mehr geworden ist. Haben wir früher fast ausschließlich zu harten Drogen beraten und vermittelt, hat es sich in den Jahren komplett verändert. Ich habe einen Überblick von 1990 bis heute. In den letzten 15 Jahren sind es vielmehr Konsumenten von Cannabis, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen.

Mit welchen Problemen kommen die Cannabis-Konsumenten zu Ihnen?

Helten Viele haben das Problem, dass sie unter Strafverfolgung leiden. Sie haben Auflagen zur Drogenberatung zu kommen.

Verharmlost die Legalisierung Cannabis?

Helten Die Legalisierung bedeutet nicht, dass es hier keine Probleme gibt und Cannabis harmlos ist. Nein, das ist es nicht. Es sind Gesundheitsrisiken damit verbunden. Die psychosozialen Risiken und die Auswirkung einer Abhängigkeit bleiben bestehen.

Der Gesetzesentwurf sieht eine Legalisierung für Erwachsene vor. Jugendliche dürfen die Droge nicht konsumieren. Dennoch: Wenn junge Menschen Cannabis konsumieren, wie gefährlich ist das?

Helten Man weiß, dass früher Konsum von Cannabis zu Schädigungen des Gehirns führen kann. Wenn man regelmäßig konsumiert, wird die Entwicklung im Bereich des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung gestört. Das kann die psychosoziale Entwicklung schädigen. Ein Riesenthema sind auch psychiatrische Erkrankungen und Psychosen.

Sehen Sie Nachbesserungsbedarf bei dem Gesetz?

Helten Ich freue mich darüber, dass diskutiert wird, und es geht definitiv in die richtige Richtung. Aber es ist noch nicht alles gut. Aus meiner Sicht bleibt offen, woher die Bezugsquellen stammen sollten. Man versucht, den Erwerb möglichst aus dem kriminellen Bereich herauszulösen.

Dafür soll es die Cannabis-Klubs geben.

Helten Ja. Dafür gibt es dann Mitgliederbereiche, die möglichst klein bleiben sollen. Aber die Gelegenheitskonsumenten finden kaum Bezugsquellen. Sie müssten ja einem Klub beitreten und wenn ich das mache, bin ich ja eigentlich regelmäßiger Konsument. Auch den Anbau von Pflanzen kann man als guten Schritt sehen. Das ist ja heute schon Realität und wird dann entkriminalisiert, beschränkt auf drei Pflanzen. Aber auch dafür muss man schon ein spezieller Nerd (Anm. d. Red., spezieller Typ Mensch) sein, der sich für die ganze Thematik interessiert. Auch die Mengen, die straffrei erlaubt sind, sind für Süchtige zu gering.

Auch ist noch offen, welche Grenzwerte zukünftig im Straßenverkehr gelten.

Helten Derzeit liegt er bei einem Nanogramm THC pro Milliliter Blut. Es wird diskutiert, ihn auf drei Nanogramm anzuheben. Das ist zwingend erforderlich. Man muss sich vorstellen: Sie fahren Auto, haben nicht unmittelbar zuvor konsumiert und es hat keine Auswirkungen auf die Fahrtauglichkeit und dennoch verlieren sie ihren Führerschein. Wenn der Konsum in Grenzen freigegeben wird, müssen wir neue belastbare Grenzen für die Fahrtauglichkeit finden. Sonst wäre es auch im Hinblick auf Alkohol eine ungerechte Sache.

Findet im Hinblick auf die Debatte genug Präventionsarbeit statt?

Helten Die wird sich definitiv verändern. Sie müsste sich weiterentwickeln und es braucht niederschwelligere Angebote. Der Jugendliche wendet sich nicht an Präventionsquellen und fragt: ‚Wie riskant ist das?‘ Jugendliche erleben Konsum aus dem sozialen Alltag heraus. Der Freundeskreis, die Musik, die Kultur sind die Griffnähe. Jugendliche sind generell von dem Konsum ausgenommen, das wirft Fragen auf: Was machen wir mit den unter 18-Jährigen? Und wie erreichen wir die Zielgruppen mit einer möglichen Suchthaltung. Wie kommen wir zu einer vernünftigen Risikobegleitung? Da müsste sicherlich viel mehr gemacht werden.