Hilfe für Suchtkranke in Rhede „Ich habe mir den Frust von der Seele gesoffen“

BBV, Bastian Tenholter vom 10.02.2025
Wir danken dem BBV, dass wir den Bericht und Foto hier übernehmen dürfen.

Hilfe für Suchtkranke in Rhede „Ich habe mir den Frust von der Seele gesoffen“

Der Leiter der Rheder Kreuzbund-Gruppe Helmut Büscher (links) im Gespräch mit Franz Josef Wortmann. Foto: © Bastian Tenholter

Der Leiter der Rheder Kreuzbund-Gruppe Helmut Büscher (links) im Gespräch mit Franz Josef Wortmann. Foto: © Bastian Tenholter

Studien gehen davon aus, dass mindestens jeder zehnte Deutsche suchtkrank ist. Zwei Betroffene berichten über ein Thema, dass sie immer noch als Tabu wahrnehmen.

„Meine Frau wusste es schon“, erinnert sich Helmut Büscher an den Morgen vor 36 Jahren, an dem ihm, als er sich gerade für die Arbeit fertig machen wollte, klar wurde: „Ich habe ein Problem, es geht nicht mehr.“ Der Rheder ist einer von Millionen Deutschen, die unter einer Suchterkrankung, in Büschers Fall eine Alkoholsucht, leiden. Die folgenden Tage nach seiner Erkenntnis entwickeln sich zum Drama: Büscher erleidet einen Herzstillstand und liegt eine Woche im Koma. „Nach dem Aufwachen machte mir der Arzt klar: noch mal überlebst du das nicht“, erinnert sich Büscher, der in der Folge ein halbes Jahr lang unter anderem in Essen entgiftet.

Millionen Betroffene

Nach Angaben des Bundesdrogenbeauftragten ist davon auszugehen, dass in Deutschland rund 8,2 Millionen erwachsene Menschen von verschiedenen Substanzen oder Glücksspiel abhängig sind und weitere 13 Millionen diese missbräuchlich verwenden. Alleine beim Thema Alkohol ist laut Studien von 1,6 Millionen Betroffenen auszugehen. Auch Helmut Büscher rutscht früh in die Sucht, wie der Rheder im Gespräch erzählt. Mit 14 Jahren beginnt er eine Lehre und ist später schon in jungen Jahren regelmäßig auf Montage unterwegs. „Alkohol war da immer und überall ein Thema“, erinnert sich der Rheder. Oftmals beginnt die Arbeit schon früh am Morgen mit einem Schnaps, bei dem es allerdings nicht bleibt, „ich brauchte meinen Pegel, um zu funktionieren.“

Seit seiner Erkenntnis 1988 hat Büscher keinen Alkohol mehr angerührt. „Dass es mir damals so schlecht ging, hat es mir leichter gemacht“, glaubt Büscher an einen heilsamen Schock. Auch seine Frau sei immer ein großer Rückhalt gewesen und auch auf der Arbeit erfährt er viel Unterstützung. „Als ich wiederkam, gab es nicht mal mehr Leergut in der Firma“, so der Rheder. Sein Chef hatte dafür gesorgt.

Hilfe war sofort da

Große Hilfe erfährt Büscher auch von Theo Anschlag. Der Rheder ist seinerzeit Bundesvorsitzender des Kreuzbundes. Diese Vereinigung wurde 1896 vom katholischen Priester Josef Neumann in Aachen als Abstinenzverband gegründet. Mit der Anerkennung von Alkoholismus als Krankheit 1968 durch das Bundessozialgericht entwickelte sich der Kreuzbund schließlich zu einer Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft und ist auch heute noch in dieser Funktion tätig. „Meine Frau hatte Theo Anschlag an dem Morgen angerufen und zehn Minuten später stand er hier bei uns im Wohnzimmer“, erinnert sich Büscher.

Für Büscher ist nach den Erfahrungen klar: „Ich will etwas zurückgeben.“ In den folgenden Jahren engagiert sich Büscher intensiv für den Kreuzbund, belegt Seminare und übernimmt schließlich 1996 die Leitung der Rheder Selbsthilfegruppe. Im vergangenen Jahr wurde Helmut Büscher für seine Arbeit mit dem Ehrenamtspreis der Stadt Rhede ausgezeichnet. Dennoch erfährt auch Büscher, dass eine Suchterkrankung auch soziale Folgen hat. Freunde wenden sich ab und kommen nicht mehr zu Besuch, seit es bei ihm keinen Alkohol mehr gibt. „Aber die sind dann sowieso nur wegen des Alkohols und nicht meinetwegen gekommen“, kann Helmut Büscher auch dem heute etwas Gutes abgewinnen.

„Ich wollte es nie wahrhaben“

Ähnliche Erfahrungen hat auch Franz Josef Wortmann gemacht. Der 56-Jährige ist zum Zeitpunkt des Gespräches mit unserer Zeitung seit 21 Monaten und 21 Tagen trockener Alkoholiker und wie Büscher Mitglied in der Rheder Kreuzbund-Gruppe. „Ich wollte es nie wahrhaben“, berichtet Wortmann, dass es Jahre gedauert hat, bis er seine Suchterkrankung für sich anerkennen konnte. „Für mich war das total bitter, mir einzugestehen: Ich bin Alkoholiker“, sagt Wortmann.

Erst im Nachhinein wird ihm klar, wie er in der Vergangenheit getrunken habe. Zwar habe er nicht exzessiv getrunken, aber es musste immer etwas im Haus sein. Wenn vor dem Wochenende das Bier zu Ende ging, musste er noch einmal los, um Neues zu kaufen. „Ich habe mir den Frust von der Seele gesoffen“, weiß er heute.

Auch Wortmann verliert nach seiner Selbsterkenntnis und dem offenen Umgang Freunde und soziale Kontakte. „Nicht alle hatten Verständnis für die neue Situation, man muss viele Türen zu schlagen“. Wie Büscher auch nimmt auch er das Thema immer noch als gesellschaftliches Tabuthema wahr, das Betroffene mit einem Stigma belegt. „Alkoholkonsum ist in unserer Region omnipräsent, die Folgen werden aber gerne versteckt“, kritisiert Wortmann.

Auch Büscher empfindet den leichten Zugang im Einzelhandel und den frühen Kontakt von Jugendlichen mit Alkohol beispielsweise in Vereinen als großes Problem. „Wir reden hier nicht über eine individuelle Schwäche, sondern über eine ernstzunehmende Krankheit“, gibt der Leiter der Rheder Kreuzbund-Gruppe zu bedenken.

Angehörige leiden mit

Einig sind sich die beiden, dass neben den Betroffenen auch die sogenannten Co-Abhängigen unter den Folgen einer Suchterkrankung massiv leiden. „Ehepartner und Kinder leiden oft am meisten unter der Situation“, so Büscher. Häufig entwickeln nahe Angehörige Schuldgefühle oder bekommen die durch die Sucht bedingten Verhaltensänderungen zu spüren. Besonders in seiner Familie ist Franz Josef Wortmann daher auch der offene Umgang mit seiner Erkrankung wichtig. „Wenn ich zur Kreuzbund-Gruppe gehe, sage ich immer: Ich gehe zu meinen ‚Saufkumpanen‘“, lacht Wortmann. Für ihn sei es wichtig, den Umgang mit seiner Erkrankung zu normalisieren und offen damit umzugehen, dass er sich Hilfe geholt habe.

Die Gruppe ist für Betroffene ein regelmäßiger und wichtiger Anlaufpunkt. Besonders das Gespräch mit Leidensgenossen sei enorm hilfreich. „Wir sitzen alle im selben Boot und wissen, worüber wir reden“, erklärt Wortmann. Auch bei Rückfällen geben sich die Mitglieder regelmäßig Halt. Man gehe nicht nur für sich zur Gruppe, sondern auch für die anderen, so Wortmann. „Jeder Mensch und jede Sucht ist anders, aber die Folgen oft ähnlich“, weiß auch Helmut Büscher, wie wichtig der Austausch in der Gruppe ist.

Der erste wichtige Schritt

Die Frage, was der erste Schritt für Suchtkranke sei, beantworten Büscher und Wortmann unisono mit „Darüber reden“. Die Selbsterkenntnis sei der wichtigste Prozess und finde bei jedem unterschiedlich statt, wichtig sei es aber laut Büscher, dass die Erkenntnis von den Betroffenen selber komme und nicht von außen. „Wenn jemand selber nicht will, dann wird es schwierig“, stimmt Wortmann ihm zu.

Gleich danach sollte man sich jemandem offenbaren, empfiehlt Helmut Büscher. Ehepartner, Freunde, Ärzte oder Hilfsorganisationen seien mögliche Ansprechpartner. „Das verfestigt die Erkenntnis“, erklärt er. Auch Büscher steht Suchtkranken regelmäßig zur Seite. „Unmittelbar“, betont er, denn zwei Stunden später habe sich der Betroffene das ganze vielleicht schon wieder anders überlegt. Betroffene erreichen Büscher unter Tel: 02872 5629. Außerdem könne man sich an den SKM-Bocholt wenden, empfiehlt Büscher.